Titelbild Der grosse Irrtum

Jenseits der Marktgesellschaft – Anmerkungen der Regisseure

Die polnische Lyriker Wislawa Szymborska schrieb einmal: „Wir nennen es Sandkorn. / Es selbst aber nennt sich weder Sand noch Korn. / Es kommt ohne den allgemeinen, / besonderen, vorübergehenden, / ständigen, vermeintlichen / oder eigentlichen Namen aus. / Unsere Blicke, Berührungen bedeuten ihm  nichts. / Es fühlt sich weder gesehen, noch berührt.“ – Wohl ähnlich könnte man über den „Marktwert des Menschen“ schreiben. Fast jeder heute kennt diese emotionslose Realität, wie auch immer man sie benennt, und macht dies auf individuelle Weise mit verschiedenen Schlussfolgerungen durch.

Als wir Ende 2005 die Produktion unseres Films „Eggesin möglicherweise“ beendeten, begriffen wir die von uns porträtierte Provinzstadt Eggesin als aufscheinendes Symptom einer tiefen Krise unseres ökonomischen Systems. Die um ihren wichtigsten Arbeitgeber amputierte Stadtgemeinschaft war auf sich selbst zurückgeworfen. Trotz aktiver Neubesinnung beobachteten wir einen bitteren Desillusionsprozess: Die eigenen Kräfte werden geringer erlebt als vermutet, und die „große Politik“ machtloser als angenommen. Der Schrumpfungs- und Auflösungsprozess der Stadt  schien unaufhaltsam.

Ohnmächtig erlebten wir gemeinsam – die engagierten Bürger und wir als Filmemacher – am Beispiel einer Stadt, wie das gnadenlose Paradigma der bedingungslosen Marktfähigkeit eine intakte Stadt zu verschlucken drohte, in denen Bürger ohne Arbeit hockten, die aber platzten vor (skurrilem) Erfindungsreichtum. Hier schien uns etwas Neues auf: Eine parallele Gesellschaft. Eine zunehmend erwerbslose und subventionierte – aber nicht untätige Bürgergesellschaft, die abseits von Markt und Wirtschaftswachstum eine eigene Kultur und Mentalität entfaltete. Noch stigmatisiert von Arbeitslosigkeit und voller Minderwertigkeitskomplexe, aber in Tätigkeit für sich selbst und für die Gemeinschaft (z.B. in Vereinen, im Ehrenamt, in der Nachbarschaftshilfe). Arbeit aber, die kein Einkommen nach sich zog. Arbeit, an deren Potenzen – so schien es uns damals – keine ernsthaften gesellschaftlichen geschweige denn politischen Visionen verschwendet wurden. Bürgerarbeit.

Nunmehr darauf aufmerksam geworden, achteten wir auf Spuren alternativer Ideen zum Paradigma der unbedingten Marktfähigkeit. Spuren, denen wir auch politische Durchsetzungschancen zusprachen. Ausgerechnet in Eggesin und in Sachsen-Anhalt stießen wir dabei auf zwei einander ähnelnde Projekte. Geduldig folgten wir ihnen – zwischen Euphorie und Skepsis schwankend – bis sie doch wieder vom gegenwärtig unanfechtbaren Paradigma des Marktwerts zersetzt wurden. Der „Marktwert“ erschien uns wie eine mystische Gestalt, die alles direkt oder indirekt ergreift – und die zugleich wie eine Fessel auf jene neue Formen von Arbeit wirkte. Wir begannen – diesen Film.

Zugleich machten wir eine ernüchternde Beobachtung in unserer politischen Landschaft: Sie ist beinahe ausschließlich erfüllt von Einkommensdebatten. Die Kehrseite (fast) allen Einkommens, die Arbeit, wird dabei kaum diskutiert. Überhaupt – was zählt zu ihr? Warum schenken wir – wenn überhaupt die Rede auf sinnerfüllte Arbeit kommt – sofort dem Kassenwart das Wort: Wer soll das bezahlen? Zählen diese Einkommensdebatten gar zu den Symptomen eines verarmten Arbeitsbegriffes? Wie einbetoniert und ehern wirkt das Paradigma des Marktwerts…